Der Komplexität „Gewalt gegen Frauen“ mit Differenzierung begegnen

 

Wirksame Maßnahmen brauchen interdisziplinäre und interorganisationale Herangehensweisen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen.

Die Aktion „16 Tage gegen Gewalt“ bietet auch dieses Jahr Gelegenheiten über „Gewalt gegen Frauen“ zu sprechen, zu schreiben und zu politisieren. Der Gewaltschutzgipfel wurde zuletzt von Isabel Haider in einem Kommentar (der Standard, 25.11.21) für seine oberflächliche Problembehandlung kritisiert. Die Polizei steht ebenso in der Kritik gegenüber gewaltbetroffenen Frauen nicht ausreichend vertrauenswürdig zu sein und damit ihre helfende Funktion nicht auszuüben.

Doch welche verlautbarten Strategien sind wirksame Praxis und was bleibt symbolpolitischen Interessen untergeordnet, ohne dem Problem konkret zu begegnen? Wirkungslose Maßnahmen folgen einer unspezifischen Problemdefinition.  Wenn Gewalt gegen Frauen unter dem Deckmantel häuslicher Gewalt (oder Gewalt in der Privatsphäre im polizeilichen Kontext) begegnet wird, bleibt ungeklärt, wovon wir eigentlich sprechen. Welche Formen von Gewalt adressieren wir, wenn wir „Gewalt gegen Frauen“ verhindern wollen? Hinter welchen gesellschaftlichen Strukturen verbirgt sich ein Problemverständnis, das konkret genug ist, um dezidierte Lösungen erarbeiten zu können?

Der Begriff der Häuslichen Gewalt ist breit definiert und schließt Gewalt zwischen Personen im selben Haushalt mit ein, zwischen Familienmitgliedern in verschiedenen Haushalten lebend, zwischen PartnerInnen und auch getrennt wohnenden PartnerInnen. Er subsumiert verschiedene Vorstellungen davon, was als häuslich gilt. Konkreter wird es, wenn wir über Gewalt in Intimpartnerschaften sprechen. Wenngleich damit meistens heteronormative Paarbeziehungen gemeint sind, so wird es doch insofern spezifisch, dass die Gewalt innerhalb einer Partnerschaft stattfindet. Gewalt wird also von einem Partner oder einer Partnerin über die oder den anderen ausgeübt. Folgen wir dieser Einschränkung kommen wir in den Genuss evidenzbasierte Kategorien bilden zu können, die uns in der Definition des adressierten Risikos und damit im Verständnis des komplexen Gewaltphänomens unterstützen können. Kelly und Johnson (2008) beschreiben hierzu Typen von Intimpartnerschaften und stellen diese in Zusammenhang mit der Intensität ausgeübter Gewalt unter Berücksichtigung der vorhandenen Geschlechter(as-)symmetrie. Zwei wesentliche Formen die für das Risiko eines Femizids besonders relevant sind und damit auch dafür, Gewalt gegen Frauen präventiv und wirksam begegnen zu können, sind:

1.      Coercive Controlling Violence: Beschreibt nötigend-kontrollierende Gewalt und geht mit emotional missbräuchlicher Einschüchterung einher, welche mit körperlicher Gewalt ausgeübt wird. Sie wird überwiegend gegen Frauen ausgeübt.

2.      Separation-Instigated Violence: Gewalt findet erstmalig aufgrund einer Trennung statt.

Diese Formen basieren auf Daten des angloamerikanischen Raums. Eine ergänzende Grundlagenforschung für den deutschsprachigen Raum die sich an den Unterscheidungen nach Kelly und Johnson (2008) orientiert ist derzeit zwar nicht vorhanden, die Studie von Birgit Haller zu „High-Risk-Victims“ in Österreich (2012) kommt allerdings zu verwandten Erklärungsmustern in Bezug auf Risikofaktoren für Frauenmorde und Geschlechterdifferenzierung.

Neben der Unterscheidung der Gewalt in Intimpartnerschaften kann der Komplexität von „Gewalt gegen Frauen“ auf drei analytischen Ebenen begegnet werden. Sie adressieren Bereiche, welche der politischen Einflussnahme und Steuerungsmöglichkeit unterliegen: Polizei, Soziale Arbeit und Medizin, und Maßnahmen zur Sensibilisierung des Umfelds. Das Projekt IMPRODOVA[1] hat die österreichische Situation der Erstverantwortlichen bei Hochrisikofällen häuslicher Gewalt in Vergleich zu sieben im Projekt beteiligten europäischen Partnerländern analysiert. Die Analyseergebnisse machen die Problembereiche der Praxis auf interpersonaler (mikro), auf (inter-)organisationaler (meso) und auf gesellschaftlicher Ebene (makro) deutlich. Durch die Betrachtung der Problemdefinition in den miteinander verschränkten Handlungsebenen wird ein Lösungsansatz sichtbar, der sich zielgerichtet auf konkrete Problemstellungen richtet, die (wie das Problem selbst) interdependent wirksam sein können, um „Gewalt gegen Frauen“ zu reduzieren und das Risiko für „Femizide“ zu verringern. 

1.        Der Blickwinkel auf die interpersonale Ebene: Der Polizist, die Ärztin, der Sozialarbeiter…

Wichtig ist, wie so oft in sozialen Situationen, der kollektive Umgang miteinander – befindet sich das Opfer in einem Umfeld, in dem es die erlebte Gewalt (offen) ansprechen kann? Wird die Person und ihre Erlebnisse ernst genommen, wird Hilfe angeboten?

Der aufmerksame Blick auf die Problemdefinition der Individuen lässt deren Lebenswelt erahnen. Eine gewaltbetroffene Frau erkennt ihren von Kontrolle und Zwang gesteuerten Alltag aus Gewohnheit nicht per se als problematisch für ihre psychische Gesundheit mit mehr oder weniger konkreten physischen Folgen. Das Umfeld der Betroffenen kann zur Erkenntnis beitragen, indem es als Regulativ wirkt. Freund:innen und Familienangehörige bieten im besten Fall eine alternative gewaltfreie Lebensweise zum Vergleich. Werden diese privaten Kontakte durch den Unterdrücker in einer Partnerschaft mit nötigendem und kontrollierendem Verhalten unterbunden oder wirkt das Familiensystem destruktiv zur Offenlegung, indem es die gewalttätige Situation aufrechterhält, dann bieten Institutionen einen Ausweg. Ärzt:innen, Pflegehelfer:innen, Sozialarbeiter:innen, Polizist:innen, Staatsanwält:innen, Richter:innen, all jene, die in Berufen arbeiten, in denen sie mit von Gewalt Betroffenen begegnen und deren Vertrauen gewinnen können.

Aber auch Journalist:innen, Filmemacher:innen, Fotograf:innen, Apotheker:innen - die Aufzählung könnte beliebig lange fortgeführt werden - entscheiden in ihrem täglichen Handeln, ob sie als Regulativ auf gewalttätiges Verhalten wirken oder zur Aufrechterhaltung der Problematik beitragen. Den moralischen Anspruch an alle zu erheben ein ausuferndes Maß an Selbstdisziplin zu leben, dass die permanente Ausrichtung auf die Problembehandlung im Alltag abverlangt, bleibt zahnloser Idealismus und ist daher nicht realistisch. Die individuelle Sensibilisierung darauf gewalttätiges Handeln zu erkennen und sich selbst und andere dagegen zu ermächtigen ist jedoch für alle machbar und kann schon ausreichend regulativ wirken, damit sich die Betroffene ihrer Situation bewusst werden kann.

1.1.   Vertrauen in den Polizisten, die Sozialarbeiterin oder in die Ärztin

Im Beitrag von Lara Hagen und Gabriele Scherndl (der Standard, 27.11.21) steht das Verhalten der  Polizist:innen in der Kritik, welche/r das Opfer zum Zeitpunkt der Offenlegung der Gewalt nicht ernst nimmt.  Der Umgang mit Betroffenen die sich als Schutzsuchende zur Polizei wenden, sollte zweifellos unabhängig von Geschlecht, Ethnie, sexueller Orientierung oder anderen kategorialen Konstruktionen passieren, die zur Rechtfertigung ausgeübter Benachteiligung missbraucht werden. Den eigenen Kategorien ist Mensch sich in der zwischenmenschlichen Kommunikation allerdings selten bewusst. Diese Unreflektiertheit kann auch dazu führen, dass die weinende und zitternde Ehefrau, die in der Polizeiwache ihre Aussage tätigen möchte, auf wenig Verständnis stößt, wenn sie ihre Situation „erst“ nach 3 Jahren fortgesetzter Gewaltausübung offenbart. Doch eben das was hier als „warum kommen sie erst jetzt“ auf Unverständnis stoßen mag ist Ausdruck einer Gewalt- und Kontrollbeziehung (CCB), die mit hohem Risiko in einem Femizid enden kann. Inwiefern ist das für die Polizei handlungsrelevant und welchen Schutz kann sie bieten?

In den Befragungen in Wien, Vöcklabruck und Vorarlberg (vgl. IMPRODOVA) wurde die als unangenehm empfundene Ohnmacht von erstverantwortlichen Praktiker:innen bei einem als hohes Risiko eingestuften Gewaltszenarios beschrieben. Der Handlungsauftrag reiche nicht über die institutionellen Hürden des Datenschutzes. Für die Polizei bedeutet das: die Kontrolle über das Handy der Partnerin, die subtilen Unterdrückung ihrer eigenmächtigen Entscheidungen oder die finanziellen Fesseln, die ihr angelegt werden, stellen keine strafrechtlich relevanten Delikte dar und machen daher die Schutzaufgabe der Polizei in solchen Fällen der CCB ohne körperliche Gewaltausübung oder massive Drohungsszenarien häufig obsolet.

Nun bleibt der von Gewalt betroffenen Frau noch, dass sie sich woanders Schutz suchen muss, zum Beispiel im Frauenhaus oder im Gewaltschutzzentrum. Das bedeutet aber auch, aktiv zu sein und sich als selbst als Opfer wahrzunehmen, um entsprechende Unterstützungsleistungen anzunehmen. Ohne zu sehr als Opfer stigmatisiert werden zu wollen, wenden sich viele Frauen daher auch an medizinische Einrichtungen, die einen gesellschaftlichen Vertrauensvorschuss genießen und zudem auch für den Unterdrücker nicht darauf schließen lassen, sie wolle sich von ihm lösen.

All diesen Schritten steht voran, dass sich die Betroffenen ihrer Situation bewusst werden. Die von Gewalt betroffene Frau die sich als Unterdrückte erkennt nimmt ihre Situation neu wahr, andernfalls liegt keine Problemdefinition vor und sie wird nicht zum Opfer. Ähnliches gilt für den Gewaltausübenden, der sich im besten Fall als Täter erkennt und Unterstützung bei einer der Männerberatungsstellen sucht. Die verlautbarte Kritik, daran, dass gewaltbetroffene Frauen sich ihren Schutz selbst suchen müssten, ist in Bezug auf die Hürden und Gefahren, die es bei der Bekanntmachung gibt zwar berechtigt, zeigt jedoch keine Alternative auf, die nicht zu einer Entmündigung der Betroffenen führen würde. Hier schließt daher die Überlegung an, inwiefern es hilfreich ist eine institutionelle Opferdefinition noch vor die Problemerkenntnis der Frau zu stellen, wenn diese sich selbst nicht als Opfer wahrnimmt. Hilfreich zeigt sich auf interpersonaler Ebene daher eher die aktive Bemühung des privaten und professionellen Umfelds als Regulativ auf gewalttätiges Verhalten in all seinen Facetten einzuwirken und so das Problembewusstsein für alle von Gewalt Betroffenen zu ermöglichen (vgl. dazu zB: Riebel 2021, 311). Initiativen und Projekte aus der Gemeinwesenarbeit wie StoP- Stadtteile ohne Partnergewalt  sind niederschwellig zugänglich und leisten dazu einen Beitrag.

2.    (Politische) Steuerung interorganisationaler Handlungsoptionen

Auf interpersonaler Ebene kommen wir in Versuchung die Komplexität der Gewaltsituation, der in der beruflichen Praxis begegnet wird, anhand der dichotomen Unterscheidung der Kategorien Opfer und Täter zu vereinfachen. So sehr diese Unterscheidung auch auf interorganisationaler Ebene handlungsleitend für den jeweiligen Auftrag von Opferschutz- und opferorientierter Täterarbeit ist, so sehr kann sie der Vielfältigkeit der Dynamik von Gewaltausübung nicht gerecht werden und tendiert dazu, eben jene damit verbundenen Zuschreibungen zu verfestigen. Das Opfer bleibt schutzbedürftig, hilflos und ohnmächtig, währenddessen der Täter als potenzieller Frauenmörder einem Handlungsdeterminismus entgegenläuft, den es seit September 2021 durch sechs Stunden in der Gewaltpräventionsberatung (GPB) zu brechen gilt. Dem Opfer wird eigenmächtiges Handeln abgesprochen und dem Täter die Veränderung.

Zentral ist hier, dass gewalttätiges Verhalten nicht linear beschreibbar ist oder gar determiniert werden kann. Die mit September 2021 eingerichteten Gewaltpräventionsberatungen verfolgen daher das Ziel die Gefährder (in dieser Konstellation überwiegend Männer) nach einem ausgesprochenen polizeilichen Betretungs- und Annäherungsverbot (§ 38a Sicherheitspolizeigesetz 2019) verpflichtend dabei zu unterstützen, gewalttätiges Verhalten in gewaltfreies zu verändern.

Hilfreich für die Einschätzung der Situation vor Ort durch die Polizei können in diesem Zusammenhang die Inhalte der im Rahmen des Projekts IMPRODOVA erstellten Trainingsplattform sein sowie das Handbuch zur Polizeiarbeit bei häuslicher Gewalt (welches sich derzeit in Veröffentlichung befindet). Die Materialien enthalten Checklisten für die Polizei, zum Beispiel zu Risikofaktoren: was habe ich gefragt, was weiß ich bereits, welche Schritte habe ich gesetzt. Insbesondere für die Polizei und den medizinischen Bereich ist Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt nur ein Teilbereich ihrer vielfältigen Aufgaben, anders als in den Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Checklisten und konkrete Ansprechparter:innen in der Organisation sind daher umso wichtiger, um Informationen zielgerichtet zusammentragen zu können, sogenannte „red-flags“ zu erkennen und Interventionen danach zu orientieren.

Den letzten Verlautbarungen des Bundesministerium für Inneres zu Folge[2] sollen nun Ansprechpartner:innen (Präventionsbedienstete) in jeder Polizeidienststelle ausgebildet werden, um intern als Unterstützung bei Fällen von „Gewalt in der Privatsphäre“ zu agieren. Dazu wurde die Anzahl der Präventionsbeamt:innen österreichweit auf 800 erhöht und ein Blended-Learning Kurs[3] eingerichtet. Analytisch betrachtet zielt die Wirkung dieser Maßnahme auf den Bereich „Gewalt in der Privatsphäre“ ab und lässt daher als Folge der ausgeführten Beobachtung die Kritik der unspezifischen Problemdefinition zu und damit die Frage offen, inwiefern die Problematik von Gewalt gegen Frauen und Femiziden damit zielgerichtet adressiert wird. Die oben erwähnten Checklisten für die Bediensteten vor Ort sowie Bestrebungen der Datenerhebung im Hellfeld durch entsprechende Vermerke in der Datenbank bei Ausspruch eines BV/AV werden bislang nicht thematisiert.  

Die Frage, was eine Anzeige bzw. ein Hinzuziehen der Polizei in eine andauernde oder eskalierte Gewaltsituation für die Beteiligten bringt, ist hier auch auf struktureller Ebene aufzuwerfen. Häufig wird als Hürde für die Offenlegung von Gewalt von einer Angst vor einer (weiteren) Gewalteskalation berichtet, oder aber auch von Scham und der potenziellen negativen Reaktion des Umfelds. Die Entscheidung orientiert sich demnach am Verhältnis des Risikos einer Gewalteskalation und den erfolgsversprechenden Szenarien der Hilfeleistung. Ist die Hilfeleistung nicht erfolgsversprechend zieht Frau es vermutlich vor weniger riskante Entscheidungen zu treffen. Die Zusammenarbeit der involvierten Akteur:innen, um die Betroffene bei der Offenlegung mit geeigneten Schutzmaßnahmen zu unterstützen sind in der Praxis relevante Problemstellungen, die häufig an der Hürde ungeeigneter datenschutzrechtlicher Bestimmungen scheitern.

Im justiziellen Bereich liegt derzeit weder der institutionelle Auftrag vor noch die rechtliche Grundlage, die den Professionist:innen eine gemeinsame Falleinschätzung außerhalb drohender datenschutzrechtlicher Konsequenzen ermöglichen würde. Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Haftrichter:innen richtet sich in Folge einer polizeilichen Festnahme jedoch darauf Risiko in Zusammenhang mit der akuten Tatbegehungsgefahr zu minimieren und die darauf folgende Verhängung und Verlängerung der Untersuchungshaft von Gefährder:innen abzuwägen. Doch woran orientiert sich diese Einschätzung des Risikos? Und was passiert danach in Haft, was vor der Entlassung oder Enthaftung, um präventiv gegenüber neuerlicher Gewalt zu wirken? Die Meldung einer Entlassung eines Gefährders durch die Justizanstalt an das Gewaltschutzzentrum ist nur indirekt durch §66aStPO abgedeckt und lässt darauf schließen, dass sie daher nicht flächendeckend durchgeführt wird. Die Handlungsmöglichkeiten zur Vernetzung der Fachdienste der Justizanstalten mit Gewaltschutzstellen und Täterberatungen sind datenschutzrechtlich sehr beschränkt. Dabei könnten entsprechende Bestimmungen die in der Justiz beteiligten Berufsgruppen dabei unterstützen in Austausch zu treten, um gemeinsame Handlungsstrategien zu entwickeln, konkrete Vorgehensweisen abzustimmen und deren Handlungsoptionen zu erweitern. Eine flächendeckende Etablierung spezifischer Schulungen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt auf den Agenden institutionsrelevanter Ausbildungscurricula kann eine wirksame Maßnahme sein, die der Kritik an der fehlenden Sensibilisierung der Justizbediensteten entgegenwirkt.

3.    Der gesellschaftlich-öffentliche Umgang mit Gewalt gegen Frauen

In geschlechterhierarchischen Gesellschaften werden Männer und Frauen differenziert wahrgenommen – diese ungleichen Machtverhältnisse beeinflussen auch spezifische Problemlagen, im Besonderen hier Gewalt gegen Frauen. Auch Zuschreibungsprozesse spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gewalt eine Rolle; sie tragen zur Konstruktion und Verfestigung von Täter und Opferrolle bei.  So sehr die vorherrschenden Rollenbilder als ursächlich für menschlich-soziales Verhalten identifiziert werden können, so wenig unterliegen sie der direkten Einflussnahme und können daher nicht politisch gesteuert werden. (vgl. Riebel 2021, 311)

Scham, die eigene Schuldzuweisung und ein antizipiertes soziales Stigma sind hochgradige Barrieren, Gewalterfahrungen zu offenbaren und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Einnehmen der Opferrolle kann als unangenehm erlebt werden, wenn die eigene Handlungsmacht dadurch abgegeben wird und damit auch die Möglichkeit, die eigene Situation zu verändern. Die Verengung auf eine Täter-Opfer Dichotomie ist auch in diesem Kontext nicht als sinnvoll zu erachten; unter anderem, weil das Opfer sich nicht als solches benennen kann oder will. Hier kann es hilfreich sein, das Umfeld der betroffenen Personen zu sensibilisieren, es darauf aufmerksam zu machen, welche Verhaltensweisen wie Kontrolle und Zwang problematisch oder gar übergriffig sein können, um sogenannte „red flags“[4] möglichst früh zu erkennen.

Dieser Erkenntnisprozess kann durch die Sensibilisierung der Berufsgruppen gefördert werden, um gewalttätige Verhaltensweisen besser zu erkennen und die Situation zu definieren. Derzeit verfügen die in Krankenhäusern eingerichteten Opferschutzgruppen allerdings über keine ausreichenden Mittel und entsprechenden rechtlichen Rückhalt, um den medizinischen Bereich komplett abzudecken. Zumal fehlt es den tätigen Gruppen an Ressourcen, um umfangreiche Sensibilisierungs- und Schulungsmaßnahmen zu treffen. Eine Verankerung in der medizinischen Ausbildung, die Gewalt als Gesundheitsproblem definiert bleibt bislang aus, kann aber als Maßnahme auf struktureller Ebene positiv zur Offenlegung von Gewalt beitragen.

Was resultiert daraus? Anregung und Conclusio zur Problemdefinition

Derzeit wird Gewalt gegen Frauen durch vorhandene Daten nicht aussagekräftig erhoben, weil die Beziehung der Beteiligten polizeilich nicht einheitlich nicht erfasst wird. Eine Erweiterung der polizeilichen und juristischen Datenerhebung im Hellfeld erscheint zur Problemdefinition wesentlicher Schritt, um die Beziehung der Betroffenen zu erfassen und entsprechend abbilden zu können.

Die unbestimmten und nicht vereinheitlichten Definitionen von häuslicher Gewalt führen auch zu Problemen in ihrer akademischen und fachlichen Bearbeitung. So muss zunächst berücksichtigt werden, welche Datenquelle welche Form von Gewalt oder häuslicher Gewalt aufzeigt (siehe Erfassung durch: Gewaltprävalenzstudien, BV/AV, GKS, PKS,) Die Frage der Definition von Häuslicher Gewalt und von Gewalt gegen Frauen ist daher zentral für die Erfassung und darauffolgend für die Planung geeigneter Maßnahmen, um dem Problem zu begegnen. Für den internationalen Vergleich wurden im Projekt IMPRODOVA (Deliverable 3.2., 2020) Empfehlungen zur Datenerhebung und Vergleichbarkeit erstellt, um darauf zu fokussieren, was mit den Daten erfasst werden soll. Bestimmungen zur Datenaufzeichnung in der polizeilichen und gerichtlichen Kriminalstatistik könnten sich daher an der Frage orientieren, welche Form der Gewalt bekämpft werden soll.

Bereits die Erhebung der Risikofaktoren und Beziehungen der Beteiligten zueinander bei einem Polizeieinsatz kann die jeweilige Gewalt in einer Intimpartnerschaft ein Stück weit abbilden. Dies ist jedoch nicht flächendeckend der Fall sondern abhängig von einzelnen engagierten Präventionsbeamt:innen, die als Vernetzungskoordinator:innen und Ansprechpartner:innen aus Eigenmotivation agieren. In der interdisziplinären Beobachtung kommt die Vermutung auf, dass auf Femizide zu wenig spezifische Maßnahmen folgen. Als wäre dies ein in sich geschlossener Kreis der Nicht-Zuständigkeit aufgrund fehlender Deliktspezifität auf allen Ebenen: Vor Ort der Polizist der nicht handelt, weil nicht ausreichend sichtbar schwere Körperverletzung vorliegt, in der Organisation keine Priorität für Häusliche Gewalt oder Gewalt gegen Frauen, weil in vielen Fällen kein konkreter strafrechtlicher Auftrag vorliegt. Ausgenommen davon ist die Einheit Victims at High Risk (VHR) die allerdings generell als high Risk-Einheit fungiert und entsprechend ausgewählte Fälle bearbeitet.  Schließlich herrscht durch diverse Ungenauigkeiten auch keine einheitliche gesellschaftliche Problemdefinition, die wiederum in Zusammenhang mit der fehlenden strafrechtlichen und damit normativen Sanktionierung steht. 

Daraus ergibt sich die Frage, ob ein eigenes Delikt häusliche Gewalt und Gewalt in Intimpartnerschaften die Lösung sein kann, um alle Ebenen zu adressieren oder ob sich eine spezifische Problemdefinition und ein damit verbundener Handlungsauftrag auch ohne Strafrecht umsetzen lassen. Die Schotten und die Portugiesen machen es mit einem Strafrechtsdelikt für Domestic Abuse vor. Eine europaweite Angleichung der Datenerhebung liegt im Bereich politischer Steuerungsmöglichkeit und könnte auch den Vergleich der Wirksamkeit von der definierten strafrechtlichen Verfolgung und der unspezifischen Verfolgung diverser Delikte ermöglichen. Auf dessen Grundlage lassen sich entsprechende Optionen für die Implementierung eines Straftatbestandes im österreichische Rechtssystem evidenzbasiert abwägen. Doch liegt es nahe, dass die Übersetzung ins Strafrecht eine symbolpolitische Maßnahme bleibt, die eine umfassende Verbesserung und Untermauerung bestehender (Sozial-)struktur nicht ersetzen kann.

Der Ausbau und die Verbesserung bestehender Strukturen scheint hier adäquater: Was es also braucht, um Gewalt gegen Frauen wirksam zu begegnen ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit und damit des Umfelds Betroffener, verpflichtende Schulungen in relevanten Organisationen und niederschwellige adäquate Angebote auf interpersonaler Ebene – und neu daran ist: alles auf Basis einer evidenzbasierten gemeinsamen Problemdefinition von Gewalt gegen Frauen.

Literatur:

Gewaltinfo.at: https://www.gewaltinfo.at/hilfe-finden/medizinerinnen/gewalt_frauen/red_flags.php (13.12.21)

Haller, Birgit (2012): "High-Risk Victims" Tötungsdelikte in Beziehungen Verurteilungen 2008-2010. Bundesministerin für Frauen und Öffentlichen Dienst im Bundeskanzleramt Österreich.

IMPRODOVA: Deliverable 3.2. (2020): Recommendations for data harmonisation and consolidation. Download: https://improdova.eu/pdf/Improdova_D3.2_Recommendations_Data_Harmonisation_Consolidation.pdf?m=1591377139&

IMPRODOVA Trainingsplattform, Einführung – Polizei als Ersthelfer bei häuslicher Gewalt, Online: https://training.improdova.eu/de/ einfuhrung-polizei-als-ersthelfer-bei-hauslichergewalt/ (10.05.2021).

Kelly, John B./Johnson, Michael P. (2008). Differentiation among types of Intimate Partner Violence. Research Update and Implications for interventions, Family court Review, 46 (3), 476–499

Riebel, Marius (2020): Die Corona-Krise als Ursache häuslicher Gewalt? In: NK Neue Kriminalpolitik 32 (3), S. 304–320. DOI: 10.5771/0934-9200-2020-3-304.

 


[1] Das Projekt IMPRODOVA wurde durch European Union’s Horizon 2020 Research and Innovation Programme under Grant Agreement No 787054 finanziert. Der Inhalt liegt in der alleinigen Verantwortung der Autorinnen und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Union wider.

[2] https://www.bundeskriminalamt.at/news.aspx?id=30635A756B525345504E493D (24.11.21)

[3] https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=676330434C3475733735383D (13.12.21)

[4] Als „red flags“ werden unter anderem folgende Risikoindikatoren für Mediziner:innen aufgelistet: Chronische Beschwerden, die keine offensichtliche physische Ursachen haben; Verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien; Partner, der übermäßig aufmerksam ist, kontrolliert und sich weigert von der Seite der Frau zu weichen (vgl. Hagemann-White und Bohne 2003 zit. in gewaltinfo.at, 13.12.21)