Neue angekündigte Maßnahmen als konkrete Antwort auf ein scheinbar bekanntes jedoch undifferenziertes Problem – häusliche Gewalt

Bezug zu: https://www.derstandard.at/story/2000133189878/regierung-praesentiert-stille-app-fuer-gewaltopfer

Die Regierung verkündet die Einführung einer neuen App ab 1. März 2022, die es Betroffenen häuslicher Gewalt ermöglichen soll, die Polizei in einer Gefahrensituation bei „Gewalt in der Privatsphäre“ zu verständigen. So sehr dieser niederschwellige Zugang eine Erleichterung in der konkreten Gefahrensituation bringen kann, so wenig werden jedoch Aspekte benannt, die nach wie vor nicht durch die aktuellen Maßnahmen berücksichtigt werden. Die Kritik richtet sich daher nicht gegen die verlautbarten Maßnahmen sondern orientiert sich an deren Nützlichkeit unter Bezugnahme der Formen häuslicher Gewalt und ihrer Differenzierungen auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene, wie im letzten Blog beschrieben. Daraus ergibt sich in Hinblick auf die angekündigte Maßnahme:

Nutzen der „stillen App“:

  • auf individueller Ebene: niederschwelliges Angebot, um Polizei „auf Knopfdruck“ in der unmittelbaren Gefahrensituation zu verständigen

  • für Betroffene, die bereits eine Anzeige in Betracht ziehen und sich der Gefahrensituation bewusst sind

  • auf struktureller Ebene kann die Etablierung der App das gesellschaftlich-öffentliche Bewusstsein über die Zuständigkeit der Polizei in Fällen häuslicher Gewalt langfristig erhöhen und damit auch zur intraorganisationalen Sensibilisierung beitragen

Kritik an dem, was damit nicht abgedeckt wird:

  • Betroffene, die stark kontrolliert werden und Angst davor haben, die App könnte entdeckt werden

  • Personen, die keine Anzeige in Betracht ziehen, weil sie sich zum Beispiel ihrer Problem- und Gefahrensituation nicht bewusst sind, woraus weiterhin ein großes Dunkelfeld resultiert

In empirischer Beobachtung zeigt sich, dass sich Betroffene der Gefahrensituation nicht immer bewusst sind, die Ihnen vom professionellen Umfeld zugesprochen wird. Mehrsprachige Kampagnen die auf die Gewaltproblematik aufmerksam machen können auf diese Problemstellung reagieren. Entscheidet sich eine betroffene Person dafür, die App zu verwenden, so wurde in der Verlautbarung noch nicht thematisiert, wie das Symbol am Display aufscheint, um im Fall der Kontrolle des Handys durch die Gefährder:innen unentdeckt zu bleiben.

In Bezug auf die angekündigten Gewaltambulanzen eröffnet sich derzeit nur der Gedanke an die konkrete Umsetzung, da eine Implementierung in bestehende Strukturen einen Sensibilisierungseffekt erzielen kann im Unterschied zur Neueröffnung eigener Ambulanzen als Anlaufstellen, die mit einem stigmatisierenden Charakter und damit mit neuen Hürden einhergehen.

Zudem ist die zitierte Studie des Meinungsforschungsinstituts OGM, die einen Anstieg häuslicher Gewalt benennt, nur eingeschränkt zu berücksichtigen, da die erhobenen Daten begrenzte Aussagekraft über die Häufigkeit häuslicher Gewalt bieten. Die Umfrage zeigt zwar, dass die Wahrnehmung der Bevölkerung über häusliche Gewalt gestiegen ist, was jedoch nicht mit einem tatsächlichen Anstieg einhergehen muss. Ohne die sorgfältig aufbereitete empirische Untersuchung verschiedener Datenquellen, unter Einbindung von zum Beispiel den Kriminalstatistiken, den Annäherungs- und Betretungsverboten oder den Anfragen bei Opferschutzeinrichtungen, lässt sich daher keine konkrete Aussage treffen.

Inwiefern die Pandemiesituation insgesamt ein erhöhtes Aufkommen häuslicher Gewalt begünstigt, benötigt daher eine problemdifferenzierte und zielgerichtete empirische Überprüfung. Das Fazit zu den neu angekündigten Maßnahmen fällt damit insoweit klar aus, dass die Maßnahmen einzelne Teilaspekte der darin als „Gewalt in der Privatsphäre“ titulierten und eigentlich adressierten „Gewalt gegen Frauen“ ansteuern, ohne jedoch entsprechende Wirkungsmechanismen auf den unterschiedlichen Ebenen durch Konkretisierung zu definieren.

Marion NeunkirchnerComment